Als Kinder hatten weder meine Schwester noch ich das richtig verstanden. Uns war lediglich klar, dass unser Großvater Eugen Vollmer unter den Nazis als Beamter nicht befördert werden konnte, weil er nicht in der Partei war. Erst viel später fand ich heraus, dass das mindestens auch an seinem jüdischen Großvater Marcus Lindemann lag, und er garnicht in die NSDAP gekonnt hätte, selbst wenn er gewollt hätte. Deshalb
überlebte er fern der Front trotz trotz seiner hervorragenden
militärischen Ausbildung im preußischen Militärwaisenhaus, und ich
lernte ihn als liebevollen Großvater kennen. Was ich schon gehört hatte war, dass sich der Großvater von Opi vor den Nazis versteckt hatte und dann während des Krieges gestorben war, weil er krank wurde und nicht zum Arzt konnte. Meine späteren Nachfragen zu seinem Schicksal auch bei der Stadt Berlin und dem Zentralrat der Juden stießen auf - nennen wir es große Gelassenheit; nur eine israelische Genealogin wollte mir gegen viel Geld helfen. Immerhin konnte ich inzwischen dem gescheiterten Ariernachweis von Opi den Namen Marcus Lindemann entnehmen und erfahren, dass der Zigarrendreher in Berlin gewesen war. Vieleicht war die Nazibande mit ihrem Judenhass ja vollkommen bescheuert, vollkommen erfolgreich war sie nicht. Immerhin kann ich, ein Nachkomme des Juden Marcus Lindemann, diese Dokumentation ins Netz stellen.
Kommen wir zurück zu meinen Versuchen, Licht ins Schicksal eines rassisch verfolgten Juden zu bringen. Erst mal war ich sehr erstaunt über dieses Desinteresse an meinem jüdischen Ahnen Lindemann, einem Opfer des Völkermordes der Nazis, so wie die Fakten konkret und menschlich, anstatt heldenhaft wurden. Woran ich schnell heran kam, waren die Unterlagen für den unmöglichen Ariernach- weis des Vaters meiner Mutter. Wie die es wohl von Ostpreußen in die Bundesrepublik geschafft hatten? Hier fand ich meine ältesten ganz sicheren Daten zu meinem jüdischen Vorfahren: Am 8.6.1881 heiratete er am Berliner Standesamt 11 seine evangelische, und wie erst viele Jahre später heraus kam, "arische" Frau Bertha Emilie Anne Thomas. Seit Jahren bin ich seiner Geschichte weiter auf der Spur. Inzwischen kenne ich viele seiner Wohnungen: Sein ältester mir bekannter Wohnsitz war 1881-93: Lindemann M., Cigarrenm., N. Wollinerstr. 67, IV. (in Wedding), 1904&5: N28, Zigarrenmach., Swinemünderstr.7, 1906 war ein Zigarrenmacher Lindemann in der Invalidenstr. 150 verzeichnet, 1910-33: Lindemann Markus, Zigarrenarb. oder-macher, N28 FehrbellinerStr. 35 oder 36 I, 35E oder 36L oder s0, ab 1934 war bisher für mich nichts mehr zu ihm zu finden . Auch hier bestätigt sich wieder, wie sehr hartnäckiges, ausgiebiges Weitersuchen auch in Sachen Familienforschung nützt. Am dritten Tage meiner Durchforstung uralter Berliner Adressbücher fand ich im Band 1899 I zu meiner Überraschung: Lindemann - M., Zigarrenfabrk., N Swinemünderstr. 7. Und noch wenige Tage spätere wurde mir das bestätigt, als ich M. Lindemann als gewerbetreibenden Cigarrenfabrikanten wieder fand. Allerdings nur 1899, nicht vor- oder nachher. Übrigens kenne ich den Beruf von Markus Lindemann aus seiner Heiratsurkunde von 1881. Ich gehe darum davon aus, dass ein Zigarrenmacher M. Lindemann in Berlin mein Urgroßvater war. In einem Fall war dann in der gleichen Wohnung auch in einem früheren Jahre ein Zigarrenmacher Lindemann ohne M. an gegeben - ich halte es für sicher, dass es sich auch hier um den Juden Markus Lindemann handelte. Erst 2016 wurde ich zu meiner Verblüffung von einem mit ähnlichen Themen Vertrauten Berliner Grafiker an geschrieben, und seit dem sieht die Sache doch erheblich differenzierter aus. Erstens kam mein Vorfahr Markus bzw. Marcus Mordechai Lindemann - denn einen jüdischen Vornahmen hatte er natürlich auch - in der heute polnischen Neumark zum Leben und starb 1944 im jüdischen Krankenhaus Berlin - ja, bei den Nazis ging es ordentlich zu. Wenigstens zeitweise war er wohl mindestens halbwegs wirtschaftlich abgesichert, sonst hätte seine Tochter mit dem urjüdischen Namen Gertrud nicht meinen Urgroßvater Max Vollmer heiraten können, der damals Schankwirt und Händler war. Dass für diese Tochter bei ihrer Eheschließung 1900 eine andere Anschrift an gegeben wird, lässt mich ratlos, weil ihre Mutter damals schon gestorben war, und junge Damen vor dem ersten Weltkriege nicht alleine zu leben pflegten. Oder war die Bernauerstr. 12 damals auch die Anschrift des Vaters? Andererseits kann er keinesfalls wohlhabend gewesen sein, sonst hätte er nicht jahrelang und von Anfang an mit einem, später wenigstens zwei Kindern im vierten Stock gelebt - ich bin sicher, ohne Aufzug. Und dann wurde meine Urgroßmutter Gertrud auch schon kurz vor der Heirat ihrer Eltern im Dezember 1880 geboren; mindestens ein Bruder Max kam später dazu; nach dem Kriege emigrierte der nach Norwegen. Ein paar nachdenkenswerte Angaben zum möglichen Umfeld meines jüdischen Vorfahren bietet u.A. das Berliner Adressbuch von 1899. So existierte damals in der Arndtstr. 12 pt. (pt. heißt wohl Parterre, tel. IX. 6534.) eine Zigarrenhandlung von M., vielleichtl auch Markus Lindemann. Möglicherweise verdienten sich noch einige Verwandte mit Zigarren ihr Geld: Ein A. Lindemann hatte ebenfalls eine Zigarrenfabrik, in der Granseer Str. 1 pt., ein Friedrich Lindemann in der Stellschreiberstr. 53 II., und Zigarrenhandlungen Lindemann existierten damals in der Golnowstr. 40 (Bernhard), und in der Prenzlauer Allee 40 pt. (Johannes). Mit meiner Urgroßmutter und ihrem Bruder Max überlebten beide mir bekannten Kinder Markus Lindemanns Nazis und Alliierte. Max siedelte dann nach Oslo um. Marcus, oder anders geschrieben Markus, ist ein ausgesprochen christlicher Vornamen nach einem Apostel. Schon mein jüdischer Vorfahr muss aus einer gut integrierte Familie stammen. Dazu würde bei meinem Ur-Urgroßvater passen, dass er eine Christin schwängerte UND heiratete, und die Tochter beider gleichfalls als Christin aufwuchs. Solcher Unsinn wie Halbjude war damals noch nicht erfunden! Wie schon erwähnt wurde mein Ur-Urgroßvater seit 1934 nicht mehr im Berliner Adressbuch aufgeführt. Darum ist mir unklar, wann er untertauchte, bei wem er unter- kam, und wann Markus Lindemann ohne Hilfe eines Arztes? woran sterben musste. Natürlich würde ich gerne viel mehr über das Schicksal meines jüdischen Vorfahren erfahren; und vielleicht auch mal ein Bild in die Hände bekommen. Und klar wäre ich für jede Anregung dankbar! Offensichtlich
wussten meine Großeltern, was mit Markus geschah, hieß es doch nach
seinem Tode in der Familie, da wäre ihm das Schlimmste erspart
geblieben. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mit dem Märchen aufräumen,
ein großer Teil der Deutschen hätte von der industriellen Ermordung der
Juden gewusst - noch nannte es niemand so nett Holocaust oder auch
Shoah. Ja, da rieselt uns so wohlig ein Schauder den Rücken runter! So etwas war für die Menschen jener Zeit, die sich als Angehörige eines zivilisierten Volkes betrachteten, einfach unvorstellbar. Und dies galt auch für meine Großeltern und Mutter, die wegen der Abstammung meines Großvaters auch von Juden selber wirtschaftlich schmerzliche Diskriminierungen hin nehmen mussten. Bei der Recherche nach dem Leben meines jüdischen Vorfahrens bekam ich wieder mal, wie so oft bei der Erforschung von Familienhistorie, eine dicke Portion "Geschichte von unten" mit. Es geht um einen Enkel Lindemanns, meinen Großvater. Dieser führt in seinem für Beamte nach dem Kriege notwendigen Entnazifizie- rungsverfahren aus: "Ich bin Mischling (1/4-jude). Ich wurde, weil ich Kriegsteilnehmer 14 / 18 war, aus nahmsweise mit Zustimmung des damaligen "Stellvertreter des Führers" zum Zollinspektor ernannt", aber "Von Beförderungen war ich ausgeschlossen." Ich kann dazu nur sagen, dass ich dem später als Hauptkriegsverbrecher verurteilten Rudolf Hess für diese Entscheidung nur dankbar sein kann. Jedenfalls hatte meine Großeltern offensichtlich Kontakt den Helfern Lindemanns. Damit kommen wir zu einem großen Verwirrer in diesem Spiel, auch ein Jude, Marcus (mit k) Lindemann, aber mit dem zusätzlichen Namen Mordechai. Auf meine Anfrage brachte ihn z. B. die "The Central Database of Shoah Victims Names" so aufs Tablett: Markus Lindemann wurde 1858 geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte er/sie in Berlin, Germany. Markus starb im Jahr 1944 in der Schoah. Quelle dieser Informationen: Liste von Opfern aus Deutschland, Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, Bundesarchiv, Koblenz 1986. Dieses schreibt, und ich glaube es inzwischen selbst: Marcus Mordechai Lindemann, *11.6.1858 Gurkow, Neumark (heute polnisch). † 20.8.1944 Berlin. "Mordechai" starb 1944 im Jüdischen Krankenhaus von Berlin (Berlin damals judenfrei, aber ein Jüdisches Krankenhaus gab es noch?) - ist das etwa untergetaucht, wie mir erzählt wurde, und muss jemand aus einem jüdischen Krankenhaus dann heimlich nachts zum jüdischen Friedhof, oder war es im damals schon schwer an geschlagenen Berlin einfach mühselig? Mordechai? Normalerweise hat jeder Jude seinen "richtigen", jüdischen Vornamen. Die unauffälligen sind für den Umgang mit der Umwelt. Fehlte ein erkennbar jüdischer Name, konnte ihm der zusätzlich von den Nazis verpasst worden sein - oder war er doch, worauf schon das c im Namen Marcus hinweisen könnte, einfach jemand anderes? Mehrere Archive waren sich da auch unsicher. Von Yad Vashem erfuhr ich zu Markus Mordechai - hier stellt sich mir die gleiche Frage: ObFinDir Berlin, Akten (LArchBerl. A Rep. 092 Nr. 23480): Lindemann, Markus Mordechai, Burgunderstr. 28 Kolonie Alpenberg, Berlin. Wohnort vor seinem Tode bei seiner Tochter Frau Dühring geb. Lindemann Burgunder- 28, Berlin-Buch, * 11.6.1858, + 20.8.1944, Eltern Michael Lindemann & Dorothea Lindemann geb. Cohn. Kein bewegliches Vermögen, geschieden. Markus
Mordechai wurde von seiner "arischen" Ehefrau geschieden, nachdem "mein Marcus"
schon 1899 verwitwet war - offensichtlich wear dies seine 2. Ehe. Bis zu seinem Tode 1944 lebte Mordechai mit einer Marie
Lindemann geb. Zielinger, nach Angabe meiner Quelle wahrscheinlich
seiner geschiedenen (zweiten) Frau, und ganz sicher nicht meine Ahnin,
und in dieser Heiratsurkunde waren sein vollständiger Vorname Markus
Mordechai genannt. Vor allem aber hieß
mein mein Ur-Urgroßvater sowohl nach seiner Heiratsurkunde
(Standeamt 11 von Berlin, Nr. 414) vom 8. Juni 1881, als auch
nach der Heiratsurkunde seiner Tochter, meiner Urgroßmutter
(Standeamt 11 von Berlin, Nr. 1343) vom 13. Nov. 1899 lediglich
Marcus Lindemann. In einer Liste der Berliner Opfer des Massenmordes
an den Juden erscheint Marcus Mordechai Lindemann fast allein
mit zusätzlichem, eindeutig jüdischem Vornamen; ein
Jude heißt sogar Adolf so und so. Übrigens wurde ich
selbst 1993 vom wild gewordenen Demonstranten gegen die
Asylrechtsnovelle durch Erleiden von geduldeter politischer Gewalt gegen Deutsche lebensgefährlich hirnverletzt - s.
http://www.deeskalation-so-nicht.de/NRW.html . Inzwischen erfuhr ich
jedoch von dem Berliner Grafiker Stefan Guzy, dass mein Vorfahr nach
dem Tode meiner Ahnin neu geheiratet hatte, und dass die oben an
gegebenen Lebensdaten seine sind. Anders, als ich an genommen hatte, war "mein Marcus" doch
Marcus Mordechai Lindemann. Wurde so ein jahrelanges Rätsel ganz ohne mein Zutun endlich gelöst? Obwohl
mir 1944 als Zeitpunkt seines Todes zu spät war; und von einem Besuch
im jüdischen Krankenhaus war auch nie die Rede gewesen. "Mein Marcus"
wurde auch nicht, wie Mordechai, offiziell beigesetzt, sondern nachts
heimlich zum jüdischen Friedhof Berlins geschleppt. Etwas seltsam ist
das alles ja schon, und ganz sicher bin ich mit nicht. Marcus erste Frau, die Christin Bertha Emilie Anne Lindemann * Thomas (Gibt es vielleicht irgendwo ein Bild meiner Ahnin, oder von "meinem Marcus"?) wurde 1858 in Berlin geboren. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass ihr Mann jünger war. Vielleicht war mein Vorfahr war der älteste Jude, der längere Zeit in Berlin unter getaucht war. Ja, es bleibt noch genug zu klären.
Nachtrag: Ich habe mich entschieden, die Bezeichnung Schoah in diesem Zusammenhang nicht zu verwenden. Erstens sind sich die Juden selber uneinig, ob das Wort für ein jüdisches Brandopfer hier genutzt werden darf - als ob die Nazis Millionen Juden etwa zur Ehre Gottes hin geschlachtet hätten. Zweitens kann man so wunderbar gefühlsduseln, ohne sich mit den Tatsachen, nämlich einen in großindustriellem Maßstabe durchgeführten, durchaus nicht romantischen Massen- und Völkermord auseinander setzten zu müssen. Das Wort Holocaust, auf das das zweite Argument gleichfalls zu trifft, ist leider schon zu eingebürgert, um es ganz vermeiden zu können. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch klar stellen, dass ich nichts, aber überhaupt nichts gegen Emotionen habe, aber sehr viel Wert darauf lege, dass zur Lösug vom politischen und anderen Interessenkonflikten der Gebrauch des Verstandes gewährleistet ist. Berliner Jude taucht unter - Naziopfer im Versteck - Wer half Berliner Juden ? - Holocaust praktisch - den Häschern der Nazis lange entwischt - Auch Opfer haben ein Gesicht, aber welches? Darum möche ich jetzt die bis heute schweren Folgen anprechen: Erst einmal litten der Vater meiner Mutter Eugen Vollmer und seine Familie darunter, dass er als Vierteljude unter den Nazis von Beförderungen aus geschlossen war. Meine Eltern erzogen mich als überzeugten Anhänger des Rechtsstaates und der Demokratie. Von wegen Demokratie, von wegen Rechtsstaat: Ich hätte mir nie vor stellen können, dass mich das Bundesland Nordrhein-Westfalen hilflos gegenüber der von ihm geduldeten Politischen Gewalt stellen und sogar ohne Ersatz für den resultierenden Verlust meines wertvollsten Instrumentes lassen würde. Trotz
meiner Krankheit - oder grade wegen meiner mir durch
Nordrhein-Westfalen geduldete Politische Gewalt zu gefügten Verletzung
versuche ich, einen Nahostfrieden zu ermöglichen, auch international. |