Familie Pudellek in Lötzen

Welt- und ostpreußische Geschichte am praktischen Beispiel Familie Pudellek 1925: Mutter Justine Pudellek - seit 13 Jahren verwitwet - mit ihren vier erwachsen gewordenen Kindern 5.6.1925 bei der Hochzeit ihrer Tochter Martha in Lötzen; diese heiratete meinen Großvater Eugen Vollmer. (Ich zeige hier nur die linken 3/5tel des Bildes.) Sie oben neben ihrer Tochter Martha als Braut und deren Bräutigam Eugen Vollmer, den Eltern meiner Mutter.



Man beachte ihren harten Gesichtsaudruck.

Links im Profil Helene mit ihrem damaligen "Schmiser". Rechts neben ihnen Luise, bei der Fritz Zeeb - die beiden sollten später Eltern meiner Patentante "Pitha" werden.


Ganz vorne Otto Pudellek, der im dritten Reich unter ungeklärten Umständen umkommen sollte.  Rechts neben Eugen Tante Berta, davor Eugens Mutter Gertrud verwitwete Vollmer, wiederverh. Schmidt, davor Tante Frida, Ottos Gattin. Gertrud Schmidts Gatte vor der Braut, hinter Otto.

Mein Urgroßvater Martin Pudellek war der Sohn wohlhabender Bauern in Mosdzehnen. Auch wenn seine Braut Justine das schönste Mädchen aus dem ca. 9 km entfernten Sucholasken war, war sie als uneheliches Kind natürlich nicht standesgemäß, und als er sie heiratete, wurde er enterbt. Trotzdem bekam er so viel Geld, dass er sich in Angerburg mit einem Fuhrwerk selbständig machen konnte.

Nach dem die ersten drei Kinder des jungen Paares 1886-1890 in Lötzen geboren wurden und dort auch starben, und dann erst ihre nächsten beiden Kinder in Angerburg geboren wurden - das eine starb auch dort, nehme ich an, dass seine Eltern zu diesem Zeitpunkt schon tot waren – die sie betreffenden Kirchenbücher gingen schon im ersten Weltkriege verloren.

Erstaunlich, wozu alte Unterlagen für den Ariernachweis einer Tante gut sein können: Erst 2008 wurde mir klar, dass Martin Pudellek seine Justine erst Oktober 1888 geheiratet hatte, und damals war sie nicht nur ein uneheliches Kind, sondern auch schon seit zwei Jahren uneheliche Mutter des ersten Kindes der beiden!

Das macht die Geschichte meiner Urgroßeltern ein ganzes Stück anschaulicher: Am Beispiel ihrer Mutter (ganz unten!) hatte Justine praktisch erfahren, dass eine unverheiratete Frau im damaligen Ostpreußen besser kein Kind bekam. Ich denke, die beiden hatten einander Treue versprochen, und Martin Pudellek hielt Wort.

Spätestens als er unverheiratet wohl kaum mit seiner Geliebten und seinem Kind zusammen leben konnte, muss er sich entschlossen haben, den Bruch mit seinen seinen Eltern hin zu nehmen, auf sein beträchtliches Erbe zu verzichten und Justine zu heiraten, um mit ihr und ihrem Kinde zusammen leben zu können.

Leider war der Erfolg seines Unternehmens sehr mäßig, so dass er später in Lötzen, von der Post fest angestellt, als Kutscher unterwegs war. Und da das nächste Kind der beiden 1895 wieder in Lötzen geboren wurde, halte ich es für offensichtlich, dass dies zu diesem Zeitpunkt schon der Fall war.

Dabei wurde er (Wann? Vor einer Gaststätte in Lötzen?) beim Versorgen seiner Tiere von einem fremden Pferde so schwer getreten, dass er einen Lungenriss erlitt. Auf diesem siedelte sich nach einigen Jahren TBC an, so dass er schließlich, noch ein paar Jahre später im Februar 1911 an dieser "langen, schweren Krankheit" starb. Die Familie bekam danach nur eine sehr kärgliche Rente.

Wie anders soll ich es verstehen, wenn ich die Aufzeich- nungen von Liese an verschiedenen Stelle nebeneinander betrachte?: Meinem Vater war es durch die Krankheit nicht möglich, die eingeschlagene Laufbahn bei der Post zu vollenden. Er ist dann (wieder) bei freiem Beruf mit Pferden und Wagen tätig gewesen (also schwer verletzt und im Rahmen seiner schwindenden Kräfte). Hierbei war er bei leichter Beschäftigung viel an der frischen Luft, was seiner kranken Lunge gut tat. Auch bei dieser Krankeit wurde damals nichts zum Wohle der Kranken von öffentlichen Stellen - abgesehen von der Krankenkasse - unternommen; und vom Eigentümer des Pferdes wohl auch nichts.

Wird es unter diesen Umständen nicht erschreckend deut- lich, was Liese meint, wenn sie über ihre Mutter berichtet: Sie mußte sich mit dem kleinen Einkommen sehr einrichten, sprang oft "für Vaterchen" ein, um finanzielle Ausfälle zu vermeiden. Ihr verletzer Gatte Martin war vor seinem Tode über längere Zeit bettlägrig. Während dieser Zeit und danach arbeite Christine meist in anderen Haushalten, und ermöglichte all ihren vier Kindern, auch den Töchtern, eine Berufsausbildung.

Für ihren freiwillligen Einsatz 1914 in der Küche der Lötzener Festung Boyen, drei Jahre nach dem Tode ihres geliebten Mannes wurde Justine mit dem eisernen Kreuz ausgezeichnet. Die Festung versperrte den weit über- legenen russischen Armeen einen wichtigen Landdurchgang in der masurischen Seenplatte und veranlasste so deren Trennung. Ihr Ausharren ermöglichte den Sieg Hindenburgs - dazu hier . Durch ihre Mitwirkung dabei wurde meine unehelich geborene Urgroßmutter Teil der Weltgeschichte und eine in Lötzen allgemein anerkannte Person.

Die ersten vier Kinder der beiden starben zum Leid ihrer Eltern, zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches, noch als Kleinkinder. Erwachsen wurden deshalb nur vier, als da wären: Otto, Hella, Liese, und meine Großmutter Marthl. Das heißt ganz nebenbei, dass meine Urgroßmutter, als sie bei der Verpflegung der deutschen Truppen gegen die russischen Invasoren mitwirkte, zehn Geburten, davon zwei Fehlgeburten, hinter sich hatte.

Übrigens lässt mich die geschilderte angespannte finanzielle Lage meiner Urgroßmutter vermuten, dass sie auch nie einen Erbteil aus dem Nachlass des reichen Bauernsohnes (Rudolf Danehl aus Sucholasken) erhielt. Ich denke, es war ausgemacht worden, dass seine Eltern ihrer Mutter Christine unter die Arme greifen würden, um vor allem - schwanger, oder schon mit Kind - noch einen Mann zu finden, dass es damit aber auch genug sein würde.

(Persönlicher wird es mit Erinnerungen von Charlotte Luise geb. Pudellek, meiner Großtante Lies:)
Mein Vater (Martin Pudellek) war ein großer stattlicher Mann. Er hatte eine frische Gesichtsfarbe dunkles Haar, stark leuchtende blaue Augen ... Er war, ich will nicht leichtsinnig sagen, aber wie man bei uns so sagte, kein Kind von Traurigkeit und brachte uns oft zum Lachen.
Er war ein großer Vogel- und Pilzekenner und verstand uns mit Schattenspielen zu erfreuen. Aber andererseits konnte er auch leicht erregt werden. Hatten wir Kinder mal etwas berissen - keiner wollte es meist getan haben - dann haben wir es wohl zu spüren bekommen.


Eine Annäherung an Martin Pudellek: Sein Bild auf einem Foto, im Original weniger als 1 cm hoch. Es wurde 1937 in Dlottowen für ein Familienbild im Garten mitfotografiert und blieb 1944 in Groß Blumenau zurück.

Meine Mutter hieß Justine. Sie war die Seele der Familie. Sie soll mal das schönste Mädchen in ihrem Heimatdorf gewesen sein. Sie war groß, schlank, zart gebaut, aber mit viel Kraft.

Mutterchen hatte ein sehr zurückhaltendes Wesen, aber eine fröhliche Natur. Ihre Selbstlosigkeit war einmalig. Sie wußte, was sie sagen durfte und behielt es für sich, wenn es nicht angebracht erschien. Deshalb wurde sie auch sehr geschätzt.

Ihr großes Pflichtgefühl führte sie uns Kindern immer vor Augen. Mit unseren Kindersorgen kamen wir immer zu Mutterchen. Sie mußte sich mit dem kleinen Einkommen sehr einrichten, sprang oft für Vaterchen ein, um finanzielle Ausfälle zu vermeiden. Sie mußte für alles sorgen, für das Feld, die Schweine und Ziegen im Stall, ja sogar für Brennung, als für das Holz. Sie wußte mit Säge und Beil um zu gehen.

Nun noch zur Stadt Lötzen: Dank seiner herrlichen Lage in der Landenge zwischen Mauersee und dem Löwentinsee (auf Polnisch: Gizycko, Jezioro Niegocin und Jezioro Mamry) ist Lötzen (die kleine Sperrfestung Lötzen hatte eine schwache Besatzung), 1914 Zentrum der Kämpfe des Ersten Weltkrieges an den Masurischen Seen, heute zum touristischen Herzstück der Seenplatte geworden. Seine Evangelische Kirche ist das wohl bekannteste Beispiel eines Schinkelbaus in Ostpreußen.

Lötzen war und ist von Wasser umgeben. Ist schon der Löwentinsee mit 26 km2 wirklich groß, gilt dies noch mehr für den Mauersee, den mit 104 km2 zweitgrößten See der Masurischen Seenplatte. In ihm entspringt die Angerapp, die für ihren Fischreichtum bekannt war und später zusammen mit der Inster den Pregel bildet.

Zu Beginn des ersten Weltkrieges hatte die Kreisstadt Lötzen nur knapp 6000 Einwohner. Nach dem Bau des Kanals zwischen Löwentin- und Mauersee war die Stadt wirtschaftlich aufgeblüht. Lötzen war das Zentrum der bedeutenden masurischen Fischerei. Zu der traditionellen Viehzucht, Fischerei, und Mühlen hatten sich bis zu Beginn des ersten Weltkrieges Sägewerke, Zement- und auch Seifenindustrie entwickelt.

Zum Schluss noch ein paar weiter ausholende Betrachtungen und Gedanken zu den Tatsachen, die ich inzwischen zusammen stellen konnte:

Martin und Justine kamen aus Käffern, beide so klein, dass es dort nicht nur kein Standesamt oder Schule, sondern noch nicht einmal eine Kirche gab.

Die Liebe der beiden muss schon groß gewesen sein; wusste Justine doch, was es hieß, ein uneheliches Kind zu sein oder zu haben. Trotzdem ließ sie sich, wie schon ihre Mutter Christine, mit einem Sohne reicher Bauern ein, dessen Eltern von dieser eventuellen Heirat ihres Sohnes natürlich eben so wenig begeistert waren, wie einst die ihres leiblichen Vaters von dessen möglicher Ehe mit ihrer Mutter.

Blos dass ihr Martin den endgültigen Bruch mit seinen Eltern schließlich in Kauf nahm und Justine heiratete. In Widminnen nahe Sucholasken, in der Kirche, in der seine Braut schon getauft worden war. Damit wurde deren Ehre wenigstens soweit wie noch möglich wieder her gestellt. Erst ihre Töchter kamen dann durch die Heirat mit Soldaten endgültig aus dem ländlichen Milieu heraus und in besser abgesicherte Verhältnisse.


Anders als zu Martins Eltern hatte die Familie regelmäßigen Kontakt zu Justines Mutter Christine, der die wohlhabende Familie ihres Kindsvaters Rudolf Danehl wenigstens 10 Jahre nach der Geburt Justines zur Heirat des fünf Jahre jüngeren Stellwerkers Martin Kischkel auch in Sucholasken verholfen hatte.

Wenn ich hier auch auf meine Großeltern (Bild links, ca. 1924 in Lötzen auf einem Schiff) komme, dann deshalb, weil mir bei meiner Recherche Tatsachen offenbar geworden sind, die mir als Kind natürlich verborgen geblieben sind: Das Bild zeigt eindeutig, dass es beide in ihrer Kindheit nicht leicht hatten. Man beachte nur den unterschiedlichen Eindruck, dem meine Großmutter und ihre eher flotte Schwester Liese (rechts) machen.

Mit dieser Subdomain bin ich weit über das hinaus gegangen, was ich noch aus Kindertagen wusste. Bin ich doch in einer Welt aufgewachsen, in der der Nachhall von Ostpreußen, von Lötzen und Königsberg noch allgegen- wärtig war. Dies gilt nicht nur für die vielen Erzählungen, die "zu Hause in Ostpreußen" spielten, sondern auch für die ostpreußische Klangfarbe der Sprache meiner Großmutter in Frankfurt und ihrer Schwestern, meiner Tanten Hella und Lies.

Damals wußte ich noch nicht einmal, dass Worte wie Marjellen für Mädchen oder Poggen für Frösche kein normales Deutsch waren. Beim Auffinden mir neuer, vor allem der Vergrößerung und "besserer Belichtung" alter Familienbilder konnte ich meine Großeltern sowie ihre Schwestern 2007 / -08 zum ersten Male nicht als gesetzte Herrschaften, sondern hoffnungsvolle, junge Leute entdecken.

Sie alle waren Ostpreußen, durch eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte herausgerissen aus ihrer Heimat. Und wir leben hier in einem Staat, der hier die Hinnahme von Mord und ziemlich beispiellosen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur "Rechtsgrundlage" gemacht hat.

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