Auch hatte sie Kontakt zu alten Klassenkameradinnen und einer
alten Lehrerin. Ihre Kindheit verbrachte sie teilweise in Königsberg-Ponarth in der Nachbarschaft von Munitionsfabriken. Gerne ging sie in einem der zahlreichen ostpreußischen Seen baden, und es war wohl für damalige Verhältnisse etwas kitzlig, wo und wie man sich umziehen konnte. Zum Glück gab es am Ufer Schilf genug. Auch nach Tilsit zog die Familie, als ihr Vater 6 Eugen Vollmer dort beim Zoll arbeitete. Dort auf der Memel wurde viel Holz geflöst. Auch Eugen Vollmers Schwager Fritz Zeeb arbeitete in Tilsit beim Zoll. Was ich schon noch zu wissen meine, ist, daß sie einige Zeit lang deutschen Verwundeten, die in Lazaretzügen in die Heimat gebracht wurden, bei Zwischenstops zu essen brachte. Wohl nach dem Abitur verstaute sie mit anderen "Arbeitsmaiden" Heu in einer Scheune, das von einem modernen Gebläse sehr gut hochgeblasen wurde. Vom Arbeitsdienst hat sie viel erzählt; leider weiß ich vieles nicht mehr. Als das Donnern der russischen Kanonen
zu laut wurde, wurden die Arbeitsmaiden, ziemlich im letzten
Augenblick, aus dem Memelland nach
Westen evakuiert. Nicht jedermann war der Meinung daß soetwas
notwendig sei. So hörte sie etwa: "Im letzten Kriege
habe ich meinen Frau mit der Kuh über den Russtrom (ein
Memelarm) geschickt, vollkommen unnötigerweise. Diesmal
werde ich klüger sein." Weihnachten 1944 - die Russen waren schon in Ostpreußen eingebrochen und hatten Massenvergewaltigungen verbrochen - kam sie in letzter Minute noch einmal nach Königsberg zurück, das sie nur noch unter Schwierigkeiten verlassen konnte;
Wir besuchten die Familie Weindel oft in Frankfurt (Römerstadt), denn das war nicht allzuweit von meinen Großeltern, wo ich oft zu Besuch war. unten links: meine Mutter 1941 mit ihrer Cousine Roswitha Zeeb, wohl in Königsberg/Pr.
Meine Mutter kannte ihre Cousine Pitha gut, sie waren befreundet, ja, fast eine Art Ersatzschwestern. Beide waren Einzelkinder, sie wurde meine Patentante und wir haben noch heute, wo sie schon eine ganze Weile Großmutter ist, guten Kontakt miteinander. Ihre Kinder sind Martin, Constanze (verh. Spitz) und Tilmann. Beide Söhne sind Ärzte, Constanze ist Lehrerin und Tilmann spielt Bassgitarre. Der Name Pitha stammt von ihr selbst; Pitha nannten sie sich, als sie noch zu klein war, um Roswitha aussprechen zu können. Zur Zeit von "Pithas" Geburt wohnten die Familien Vollmer, meine Großeltern, und die Familie Zeeb, mein Onkel Fritz und meine Tante Lies, in der Barbarastraße in Königsberg-Ponart, einem Industrievorort, der von Munitionsfabriken und einer Brauerei geprägt war. Oft wohnten meine Mutter und ihre "Fastschwester" Pitha nahe beieinander; schließlich waren ihrer beider Väter Zöllner. Dies war sowohl in Königsberg als auch in Lötzen an der Memel der Fall, und nach dem Krieg einfach deshalb, weil ihre Mütter, die schließlich Schwestern waren, beide nach Walsrode geflüchtet waren. Tante Pithas Eltern, mein Onkel Fritz und meine Tante Lies (Zeeb) zogen kurz nach Tante Pithas Geburt nach Raudzen bei, und ungefähr ein Jahr danach, direkt nachTilsit in in den selben Block, in dem auch meine Mutter wohnte. Diese besuchte hier die Grundschule und einige Jahre das Gymnasium, die Luisenschule. Zeebs zogen nach groß Blumenau und Onkel Fritz nacxh Berlin, wo er die V2 zu entwickeln half. Ich erinnere mich an eine Geschichte, wo ein Tischler - ich weiß nicht einmal, ob von meinem Großvater oder seinem Schwager, meinem Onkel Fritz - davor gewarnt wurde, geschmuggelten Schnaps zu trinken. Daraufhin sagte er in schönstem Ostpreußisch etwa, zur Not könne er auch Beize trinken (wahrscheinlich war es keine Beize, sondern etwas wenigstens zur Not halbwegs Trinkbares). Meine Mutter konnte den ostpreußischen Tonfall sehr gut vorführen, wenn sie z. B. die Worte des Tischlers erzählte. Es war ein frecher Spruch... Meine Mutter las schon während der Schulzeit viel und ging gerne ins Theater. Bisweilen ging ein junger Mann; ein Nachbar, Bekannter oder so mit und begleitete sie nach Hause. Sie u nterhielten sich so gut, daß sie ihn danach ebenfalls nach Hause brachte. Einmal wollte sie beim Rückweg vom Theater die Schuhe schonen, und zog sie aus. Leider war es Winter. Aber auch über Rotz konnte meine Mutter eine sehr interessante Geschichte erzählen; und auch sie spielt im Winter. Der war in Ostpreußen lang und hart, was nicht nur die Voraussetzungen fürs Schlittschuhlaufen verbesserte. Es war also Winter in Königsberg, und meine Mutter war auf dem Nachhauseweg von der Schule, als sie hörte und sah, wie ein Mann sich die Nase schneutzte. Zeit, um darauf zu achten, hatte sie genug; sie wollte eine Bahnlinie überqueren und mußte warten, weil die Schranke unten war; und siehe da: Der Rotz landete auf der Schranke und gefror. Die Winter waren lang in Königsberg, meine Mutter konnte monatelang prüfen und sich vergewissern, daß der Rotz noch auf der Schranke klebte. Wochen und Monate fuhr sie mit ihrer Hand über die Schranke, um den Hubbel spüren zu können, von dem sie wußte: Das ist der Rotz. Diese Gelegenheit nutzte sie gerne, jeden Tag.
Um
nicht zum Kriegshilfdienst zu müssen, ging sie noch auf
die Führerinnenschule in Schloß Düsterthal
(ehemal. Schloß der Hardenberg). Von ihrer Flucht konnte sie auch so einiges erzählen, was passieren kann, wenn Frauen sich in schon - wenigstens vermeintlich - verlassenen Bauernhöfen waschen, und wie sie ein Stück auf einem Wehrmachtslastwagen mitgenommen wurde, ein entgegenkommender, ich glaube, sie sagte englischer Panzer drehte ab, als seine Besatzung die Frauen auf dem Lastwagen entdeckte. Hier füge ich mein Protokoll Mutti Flucht und Nachkrieg ein; das zugrunde liegende Gespräch führte ich kurz vor ihrem Tode mit ihr: - Feb. 44 Abitur
Sie pflegte auch die Frau eines Königsberger
Arztes.
Das Lager Heide war sehr groß; es umfaßte etliche
Dörfer, sodaß die Zivilisten, die dort wohnten, mitgefangen
waren. Der Stacheldraht ging um sie alle herum. Möglicherweise wurde sie deshalb fest gehalten, weil sie, wie ihr Vater sie noch Jahre später denunzieren musste, im Arbeitsdienst Kamerad- schaftsälteste gewesen war. Doch schließlich wurde sie von ihrer Mutter gefunden und nach Walsrode mitgenommen, was schon wegen des Nord-Ostsee Kanales, der eigentlich von Deutschen nicht überquert werden durfte, (das Land nördlich des Kanales war nicht besetzt) nicht einfach war. Tante Lies half Omi suchen. Wochenlang brauchten die beiden Frauen dafür; dazu trampten sie bei Alliierten mit und mußten teilweise viele Kilometer weit gehen dazu. Über den Kanal schafften sie es als angebliche Bienenkorb-Begleiterinen. Nach Walsrode, wo ihre Mutter und Tante Lies seit dem Frühjahr '45 lebten. Zuerst waren deren Schwester (meine Tante) Lies mit ihrer Tochter Roswitha (Tante Pitha) dort gelandet. Im Februar waren sie nach harter Flucht in Berlin angekommen, aber Onkel Fritz schickte sie wegen der dauernden Luftangriffe auf Zivilisten weiter Richtung Westen; rein zufällig nahm sie der Flüchtlingszug nach Walsrode mit. Meiner Großmutter, deren Flucht sie nach Leipzig verschlagen hatte, liessen sie (wohl März oder April 1945) nachkommen). Und im Frühjahr '46 kam denn ihr Vater aus US-Gefangenschaft; so gut genährt, wie er vor- oder nachher nie wieder war. Daß er überhaupt zurückkommen würde, war da schon klar; schließlich hatte es seine Familie aus Postkarten erfahren, oder sie hatte sogar einen Brief von der Wehrmacht erhalten. Er bekam sehr früh wieder eine Arbeit
als Zöllner, in Nordhorn, da er nie in der Partei gewesen
und als ¼- Jude diskriminiert worden war. Meine Mutter
arbeitete in Nordhorn für die Kreisverwaltung und hatte
damit auch oft mit der Besatzungsmacht England zu tun. Sie bekam,
so glaube ich, dabei Lust, Jura zu studieren, was sie später
in Frankfurt tat. Den Engländern gab sie bei Diskussionen
im Rahmen der "reeducation" Widerworte. Die Einheimischen konnten sich mit dem Besatzern einfacher und erfolgreicher verständigen: Sie sprachen Platt mit ihnen. Meine Mutter soff bisweilen bis zum Spucken. Ich glaube, in Nordhorn kauften ihre Eltern die ersten Möbel, z. B. einen Wohnzimmerschrank, ein Meisterstück, das ich lange noch besaß und als Bücherschrank nutzte.
So nötig wie angeblich mein Vater hätte sie das wohl nicht gehabt. Wie ich hörte, war sie geflegt, sehr gut gekleidet und hatte genug Verehrer. Überigens gab sie dann ihre juristische Ausbildung nach dem ersten Staatsexamen auf und arbeitete, damit wenigstens einer verdiente und mein Vater sein Studium schnell und problemlos abschließen konnte. Studiert hatte sie in Frankfurt, wie auch ihre Cousine, meine Tante Pitha. Diese studierte von 1951-1954 in Frankfurt an der Modeschule Modegrafik und machte ihr Diplom, und dann zeichnete sie, weil sie keine Arbeit fand, Trickfilme. Ihren späteren Mann, meinen Onkel Klaus, lernte sie als Statistin an den Städtischen Bühnen Frankfurt kennen. Neben ihrem Studium arbeiten mußte aber auch meine Mutter, während des Semesters z. B. über den Studentenschnelldienst in der Frankfurter Messe, und während der Semesterferien bei der Kreisverwaltung Nordhorn. Später tippte sie für einen Verlag (Merian?) und arbeitete wohl auch für das Frankfurter Senkenbergmuseum, dessen Hefte "Natur und Museum" sie bis an ihr Lebensende bezog.
Wenige Tage vorher kam ihre Schwägerin, meine Tante Gabi, zu einem Abschieds- besuch. Sie hatte meine Mutter immer als starke, beherrschte Frau erlebt; aber diesmal brach sie in Tränen aus, als sie von Ostpreußen und Masuren erzählte. Meine Tante Pitha meinte jetzt, im Herbst 1996, sie vermisse sie oft, so, wie sie eine Schwester vermissen würde. Auch hätten meine Eltern wirklich immer eine vorzügliche Ehe geführt. Wenige Monate nach dem Tode meiner Mutter wurde dann Nicolai geboren, aber das erlebte sie nicht mehr; genausowenig wie ihre Eltern. Mein Großvater 6 Eugen Vollmer war nun schon lange tot und hatte selbst Claudia nie kennengelernt. Über seine Familie wußte weiß ich wenig, nur das, daß er aus Berlin kam, die Familie Vollmer gut angesehen war, Verwandte eine Tischlerei oder Schreinerei hatten und daß er als Kind im Berliner Militärwaisenhaus lebte. Mehr erfuhr ich 2007 aus einem in seinen Entnazifizierungsakten enthaltenen Lebenslauf: Nach dem Tode seines Vaters 1908, eines Gastwirtes, kam er November 1909 ins große Militärweisenhaus Potsdam. Hier gab es einmal im Jahr eine Art Parade oder Vorführung der Waisen für Mitglieder der Kaiserfamilie, die das Waisenhaus besuchten und den Waisen etwas Leckeres zum Essen mitbrachten. Wir waren einmal in Ferien an der Ostsee, als eine Kaisertochter ihre Bücher in einem Buchladen vorstellte. Meine Mutter sprach sie auf die Besuche im Militärwaisenhaus an und die Kaisertochter lachte und meinte, daran könne sie sich gut erinnern. Die beiden unterhielten sich ein paar Minuten, und noch heute habe ich das signierte Buch. Im Waisenhaus hatte mein Großvater viel zu leiden. Er wurde geschlagen und bekam zuwenig zu essen. Seine Mutter wollte ihn eigentlich aus der Anstalt heraus zu sich nehmen, doch die Familie verhinderte dies. Mit seiner Konfirmation 1915 wechselte er in die dem Waisenhaus angegliederte Militärschule, wo der außer der Mittleren Reife eine Militärische Ausbildung erhielt. Natürlich mußte er danach auch zum Militär. Es folgen unten Eugen Vollmer mit seiner späteren Frau Martha Pudellek.
Nach seiner Entlassung aus dem Militärwaisenhaus, mit 18 Jahren trat mein Großvater März 1918 in das Infanterieregiment 20 ein, mit dem er die letzten Monate des ersten Weltkrieges in Frankreich kämpfte. Offensichtlich wurde seine Ausbildung als so wertvoll eingeschätzt, dass er trotz der Niederlage Deutschlands, wie bei seinem Eintritt in dies Waisenhaus abgemacht, als Kapitulant für insgesamt 12 Jahre in die Reichswehr diente. Dabei durfte Deutschland nach dem Versailler Vertrage nur noch 100.000 Soldaten haben. Zeitweise wurde er auch in der Ostpreußischen Garnisonsstadt Lötzen stationiert. Hier lernte er dann meine spätere Großmutter kennen. Ich meine, dass dies beim Tanze in einem Parke war, wo in einem Pavillon regelmäßig auf gespielt wurde; ich weiß nicht, ob von einer Militärkapelle oder einer Art Churorchester. Leider kann ich nicht genau sagen, wann genau sich meine Großeltern kennen gelernt habe; ich denke, drei oder fünf Jahre vor ihrer Hochzeit. So genau gingen nicht einmal die Entnazifizierungsakten meines Großvaters auf seinen Militärdienst ein. Er wurde jedoch schon vor 1925 von Lötzen nach Königsberg versetzt. Bei einem Besuch Marthas zu einem Faschings-Kostümfest dort kam nicht nur die Brautmutter als Anstandswauwau, sondern auch eine Schwester mit, die dort einen sehr netten, aber leider buckligen Mann kennen lernte - wie gut, dass sich hinterher heraus stellte, dass der Buckel Teil seines Kostüms war! Die beiden heirateten dann auch. "Zwölfender" wie mein Großvater wurden wohl mindestens üblicherweise nach Ablauf ihrer Dienstzeit als Beamte übernommen; Eugen beim Zoll.- - - - - - weiter mit dem Erinnerten: Bei der Reichswehr wurde Eugen Vollmer zum Feuerwerker ausgebildet (wohl nur bis zu einem ersten Examen, sodaß er später nicht so, wie sein Schwager Fritz, als Ingenieur arbeiten konnte), war später, wie dieser, im 100.000-Mann-Heer { aus dem Reichsheer schied er als Oberfeuerwerker (Z) aus}. In Königsberg, in Ponarth arbeitete er wohl auch als Feuerwerker. Danach arbeite er als Zöllner, deswegen war er, als ich ein Kleinkind war, auch in der OFD Frankfurt tätig, traf sich aber auch noch mit Feuerwerkern in einem Verein, dessen Gründung er angeregt hatte. Tilsit, wo die Familie(n - auch die seines Schwagers Fritz Zeeb) ein paar Jahre lang lebte(n), lag ja immerhin an der Grenze. Hier arbeitete er als Zöllner. Inzwischen habe ich von meiner Tante Pitha erfahren, daß mein Großvater selbst dann, wenn er gewollt hätte, nicht in die NSDAP hätte eintreten können: Er war 1/4-Jude, über seinen Großvater Lindemann. 6 war also Beamter, und deshalb wurde zur Bekämpfung der Inflation sein Gehalt vermindert (ich habe daran ja schon oft gedacht, und gerade jetzt kommt mir dazu der Ausdruck "Brüningsche Notverordnung" in den Sinn). Damals war Eugen Vollmer noch beim Heer. Ein paar Jahre später, als er dann bei Zoll war und hier ein normales Gehalt bezog, waren die Nazis an der Macht, jede Beförderung war ihm verwehrt, weil er nicht Parteimitglied war. Er wollte oder konnte sogar auch nicht hinein, die Familie Vollmer mußte lange mit einem ziemlich bescheidenen Einkommen auskommen.
Bis
Mai 1943 war er noch in Ospreußen mit Munitionsverwaltung und
Bürodiensten beschäftigt; dann wurde er zum Heereswaffenamt Paris
versetzt. So kam dieser gut ausgebildete Soldat nie zum Kampfeinsatz und
überlebte. Im August 1944, nach der Invasion der Aliierten jedoch wurde er von den Amerikanern gefangengenommen. Er kam so rund und dick nach Walsrode, wie er nie vor- oder nachher aussah. Unvorstellbar für die Familie, die schwer hungern mußte. Leider kann ich keine weiteren Angaben
machen. Na klar, ich weiß, Anfang der 50ger Jahre arbeitete
er in Wiesbaden, dann lange in der Oberfinanzdirektion in Frankfurt,
und ich habe versucht, seine wichtigsten Personalakten wenigstens
als Kopie zu erhalten. Aber leider waren diese Akten schon vernichtet;
wäre ich nie drauf gekommen. Er war einfach nicht wichtig genug. Ich glaube, daß eine Geschichte erzählt wurde, seine Familie sei ursprüng- lich aus Österreich gekommen, aber vor langer Zeit wegen ihrer Konfession von dort vertrieben worden. Auch von einer Tante aus seiner Verwandtschaft, ich glaube, sie hieß Bettie, habe ich gehört. Vor allem von ihren großen Brüsten, die sie über die Stuhllehne hängte, wenn sie den Stuhl an den Tisch heran schieben wollte. Kommen wir nun zu seiner Frau. Meine Großmutter Martha Vollmer, * Pudellek war in Lötzen in Masuren geboren worden. Wenn Anbeter kamen, konnte es vorkommen, daß sie oder ihre Schwestern die Jünglinge mit der Behauptung weckschickten, die Angebetete sei leider grade nicht zuhause. Einmal ging sie im ostpreußischen Winter barfuß vom Tanz nach Hause, um ihre Schuhe zu schonen. Auch aus Versehen Geld verheizt hatte sie, oder befürchtete jedenfalls, dies getan zu haben. Ähnlich ging es ihr im zweiten Weltkrieg mit Kleider- karten; zum Glück waren die dann doch zu finden.
Als Witwe zog meine Oma in die Mittelstraße in Bonn-Bad Godesberg. Hier starb sie auch, ein T-Shirt von mir, das sie zum Trocknen aufhängen wollte, in der Hand. Ich sah sie noch auf einem Sessel im Wohnzimmer "sitzend". Ihre Möbel verkaufte ich großteils; nur ihren Wohnzimmerschrank benutzte ich noch. Ihre Wohnung mußte ja leer werden, und ich konnte jede Mark gut gebrauchen. Über sie ihre Familie fand ich übrigens noch einiges mir so Neues heraus. Ihre Schwester, meine (Groß-) Tante Lies, lebte während des zweiten Weltkrieges in Groß Blumenau bei Königsberg. Eine Wohnung in Berlin, wo ihr Mann, mein Onkel Fritz, die Geheimwaffe V2 mitentwickelte, war nicht zu bekommen. Oft reiste sie zu ihrer Schwester Martha nach Königsberg, um ihr politische Witze zu erzählen. Am Telefon wäre das zu gefährlich gewesen. Tante Lies Tochter ist meine Patentante Pitha. Die Schwester der beiden, meine Tante Hella ging früh (noch vor dem Zweiten Weltkriege) in den Westen und hatte meine Tante Gisela als Tochter. Diese hatte zwei Kinder, die ich kannte, und die beide nicht mehr leben. Ihren Bruder Otto habe ich nie kennen gelernt, nur seine Witwe mit ihrer amerikanischen Familie - bis vor kurzem war mir nicht klar, wie die mit mir verwandt waren. Meine Urgroßeltern kannte ich nicht, nur Geschichten hörte ich von ihnen. Mein Urgroßvater 14 Martin Pudellek war Postillon und spielte gerne und gut auf seinem Horn, wenn er durch die Gegend juckelte. Eigentlich war ihm ja eine Ehrentrompete versprochen, die er aber zu seiner Empörung nie erhielt. Oft saß eine seiner Töchter neben ihm. Dann aber wurde er, als er an einem Gasthof Pferde ein/ausspannte,von einem fremden Pferd verletzt. Er erlitt einen Lungenriß, in dem sich TBC ansiedelte. Schließlich, nach längerem Siechtum, starb er am 9. 2. 1911 daran. Eigentlich hätte er ja einen großen
Bauernhof erben können, aber er wurde enterbt, weil er meine
Urgroßmutter, ein uneheliches Kind, heiratete. Von seinem
Pflichtteil kaufte er sich dann Pferde und machte sich selbständig. Er war wohl ein manchmal leichtsinniger
Mensch, der "oft" seine Arbeit wechselte und laut Oma
mehrere Käfige mit Kanarienvögeln hatte. Er spielte
nicht nur auf verschiedenen Instrumenten, sondern pfiff und sang
auch mit seinen Vögeln. Wie ich 2002 von meiner Tante Pitha, ihrer
Tochter, hörte, hatte er wohl dichtes, welliges Haar, ähnlich
seinem Sohn Otto. Sein einziges Bild blieb bei der Flucht in
Blumenau? Die Mutter hieß Linne (in Ostpreußen noch Lindchen), die Töchter hießen Gracie und Diana Carol. Gut klang das, fast wie "Dein Kerl". Ich glaube, zwei etwas ältere Söhne gehörten auch zur Familie.
Ich meine eine Geschichten gekannt zu haben, wie die Schwestern Pudellek im ersten Weltkrieg flohen. Außerdem kenne ich Geschichten von Otto, ihrem Bruder. Er sprang einmal mit zwei Regenschirmen als Fallschirm vom Dach eines Schuppens; und natürlich klappten die Schirme um und er fiel heftig herab. Dies geschah in Lötzen, und Pitha konnte zusehen. Dann kannte ich noch ich noch eine Ottchen-Geschichte - sie bezieht sich auf den Sohn Ottos, wie er gegen Ende des Krieges am Bahnhof von einem Soldaten angemacht wurde, wieso er denn nicht kämpfe. Er antwortete, daß er die Kanonen auch so durchaus gut genug hören könne. Martl und Lies, meine Großmutter und -tante, zankten als halbwüchsige Schwestern viel. Omi muß Tante Lies gegenüber ziemlich viel angegeben haben, und wenn ihre Schwester sich schön nannte, ging sie zu einem grade auf diese wartenden Jüngling vor, und behauptete: Liese darf nicht kommen".
Von den Kindern der Eheleute Martin und Justine Pudellek sind die 3 ältesten in Lötzen geboren (Anna 1886, Marie & Bertha 1889). Erst danach war die Familie nach Angerburg weggezogen (Martin stammte aus dem Kreise Angerburg). Die beiden folgenden Kinder (Fritz 1891, Otto 1893) sind in Angerburg geboren. Wieder in Lötzen kamen danach Karoline Helene (Tante Hella) 1895, Charlotte-Luise (Tante Lies) 1898, Ida Martha (Martl, meine Omi) 1902 (zwischen beiden letzteren gab es noch eine Fehlgeburt von Zwillingen). Meine Urgroßeltern lebten in Lötzen, also in Masuren. Von meiner Großmutter habe ich gehört, daß sie Masurisch sprachen, wenn die Kinder etwas nicht verstehen sollten. Aber das meiste verstanden sie schon. Nach Martin Pudelleks Tod 1911 hatte seine Witwe "Justchen" 1 Kuh und 1 Schwein; ihre Pension war eben sehr gering. Morgens nahm ein Kuhhirt die Kuh mit; den Weg nach nach Hause am Nachmittag fanden die Kühe alleine. Zu Omis Schulzeit hatte sie eine Wiese gepachtet, und wenn sie Omi (Martha) vor der Schule weckte, war ihr Rock naß, weil sie schon Graß gemacht hatte.
1914 wurde Christines Hof in Widminnen bei Angerburg gesprengt, weil er in der Schußlinie lag. Sie erhielt eine hohe Abfindung. Nach dem Tode ihres Mannes lebte sie bis zu ihrem Tode 1923 in Lötzen bei ihrer Tochter Justine. |